#79 Bütis Woche: Neue europäische Industriepolitik: Digital, Ökologisch, Sozial

Am 13. September wird EU-Kommissionpräsident Juncker seine jährliche Rede zur Lage der Europäischen Union halten. Dieses Mal gibt es hohe Erwartungen, dass Jean-Claude Juncker dem Thema europäische Industriepolitik mehr als nur die gewöhnlichen vier bis fünf Standardsätze widmen wird. Der Druck auf die Kommission in diese Richtung hatte über das letzte Jahr stark zugenommen. Er kam aus der Industrie selbst. Er kam aus dem Europäischen Parlament und zwar fraktionsübergreifend. Er kam auch aus den Mitgliedsstaaten. Als ich vor dem Sommer mit Juncker sprach, um ihm ebenfalls zu signalisieren, wie wichtig eine kohärente gesamteuropäische industriepolitische Strategie sei, hatte er nach meinem Eindruck schon angefangen, sich mental in Bewegung zu setzen. Er wusste noch nicht, ob er das Thema in seiner großen Rede behandeln würde, wie jetzt vorgesehen, oder ob die Kommission sogar eine neue Kommunikation zur Industriepolitik vorlegen sollte; die letzte solche Kommunikation stammt aus dem Jahr 2011. Inzwischen pfeifen in Brüssel viele Spatzen von den Dächern, dass es beides in dieser Woche geben wird; erst die Kommunikation, dann die Rede (eine förmliche „Kommunikation“ der europäischen Kommission ist ein umfassendes Strategiepapier).

Beamte der Europäischen Kommission, die mehr oder weniger genau wissen, was Juncker in wenigen Tagen nun sagen will, geben sich durchweg Mühe, die Erwartungen zu dämpfen. Eine Kommissionsvertreterin aus der Generaldirektion Wachstum (DG GROW) erklärte in diesem Zusammenhang, Juncker sei kein Freund wohlklingender Papiere. Wenn man daraus schließen dürfte, er werde dafür mehr Substanz liefern, wäre das natürlich großartig. Wir werden sehen. Tatsächlich ist es für die Kommission nicht ganz einfach, Industriepolitik zu gestalten. Nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Artikel 173) liegt die Hauptverantwortung bei den Mitgliedstaaten, die sich dazu koordinieren, „soweit“ sie das für erforderlich halten. Doch gegenwärtig ist ein günstiger Zeitpunkt für einen Vorstoß. Das Maß der industriepolitischen Verunsicherungen nimmt nämlich ständig zu. Dazu wächst vermehrt die Einsicht, dass einzelne Mitgliedstaaten für sich alleine, unkoordiniert, der Herausforderungen nicht Herr werden. Drei große, revolutionäre Herausforderungen sind es vor allem, denen wir uns industriepolitisch stellen müssen. Erstens der vierten industriellen Revolution, die auf das Schlagwort Digitalisierung hört. Zweitens die Verschiebung globaler ökonomischer Gewichte und Wirtschaftsbeziehungen, die durch den Aufstieg neuer mächtiger Industriestaaten, voran China, und durch eine veränderte strategische Positionierung der USA bewirkt werden. Drittens müssen wir ein neues global greifendes Entwicklungsmodell realisieren, um zu verhindern, dass ein Klimawandel außer Rand und Band die Grundlagen unserer Zivilisation weitgehend untergräbt oder sogar insgesamt zerstört.

Den ganz großen Wurf erwarte ich von Junckers Rede nicht. Für die Bewertung sollte vielmehr ausschlaggebend sein, ob der Kommissionpräsident tatsächlich alle drei Dimensionen anspricht und ob er für jede von ihnen wenigstens einige konkrete Baustellen oder Projekte benennt.

Zum Thema industrielle Revolution würde ich von Juncker gerne hören:
– dass er sich dem Thema „Digital Divide“ widmet. Es droht eine Spaltung zwischen mächtigen Technologieführern und dem normalen Mittelstand, zwischen „Digital Natives“ und Abgehängten; zwischen denen Regionen, die Anschluss halten, und allen anderen.
– dass er sich dem Thema Qualifikation zuwendet; alle sagen, Qualifikation sei ein Schlüsselthema, aber wie politische Ökonomie von lebenslangem Lernen, von Neu-Qualifizierung und Umschulung gestaltet werden soll, wird fast nicht diskutiert; und dass er den Schutz von Arbeitnehmerrechten nicht vergisst.
– dass er sich traut für den Ausbau digitaler Infrastruktur in Europa ein ehrgeiziges Ziel zu formulieren, wie es etwa die schwedische Regierung tut, die bis 2025 für 98% der Bevölkerung 1GB/s Netzzugang versprochen hat.
– dass er wenigstens thematisiert, dass die digitale Revolution die finanziellen Grundlagen für Sozialversicherung und Steuersystem massiv beinträchtigen wird, so dass es nötig ist, sich dazu fundamentale Reformüberlegungen zu machen.

Zur Frage der globalen Veränderung industriepolitischer Gewichtung möchte ich von Juncker erfahren:
– wie er zur Sicherungen der Zukunftsfähigkeit der europäischen Industrie dafür sorgen will, dass ein wirksames „Screening“ sensibler ausländischer Direktinvestitionen in Hochtechnologiebereichen europäisch koordiniert zustande kommt.
– wie er wirksame Anti-Dumping-Verfahren gewährleisten will ohne dabei in Protektionismus zu verfallen.
– wie er im Wettbewerbsrecht durch Reformen dafür sorgen will, dass nicht ein neuer Technikmonopolismus aus den USA oder aus China europäische Märkte um ihre Wettbewerbsfähigkeit bringt.
– wie seiner Meinung nach europäische Handelsabkommen gestaltet werden müssen, um durch sie eine gesamteuropäische Industriepolitik zu fördern, statt die Industrie bestimmten handelspolitischen Dogmen auszuliefern.

Mit Blick auf die notwendige Klimaverträglichkeit europäischer Industriepolitik möchte ich von Juncker gerne wissen:
– dass die Kommission klar auf Divestment bei verschiedenen Energien und auch die Förderung von Green Finance setzen wird.
– dass die Ambition der Kommission bezüglich der europäischen Kreislaufwirtschaft nicht durch die Lobbyinteressen von Business Europe und anderen anti-ökologischen Dinosauriern begrenzt werden wird.
– dass die Kommission angesichts der Dieselskandale und der Gefährdung hunderttausender europäischer Automobilarbeitsplätze, als Folge der Verschlafenheit der meisten Konzerne, die Führung bei der Durchsetzung einer europäischen Batteriefertigung und beim Aufbau von E-Mobilität-Infrastruktur übernimmt.
– dass die Europäische Kommission angesichts der Rohstoffabhängigkeit, Europas Energie- und Rohstoffeffizienz im Forschungs- und Innovationsbereich dauerhaft voranstellt.

Zu Zeiten des Kommissionspräsidenten Barroso hatten Kommission und Europäisches Parlament den Willen einer Renaissance der europäischen Industrie einzuleiten mit der Formulierung des Zieles verbunden, die Industrie solle in Zukunft wieder ein Fünftel der europäischen Bruttowertschöpfung beitragen. Ökonomisch realistisch war dieses Ziel nie, aber es brachte wenigstens eine politische Entschlossenheit zum Ausdruck, deswegen habe auch ich in meinem industriepolitischen Bericht, der das Motto „Renaissance of Industry for a Sustainable Europe“ (RISE) propagierte, nicht gegen die 20%-Rhetorik polemisiert. Aber heute wäre es nicht genug, wenn die Kommission nur zu dem 20%-Ziel zurückkehrte, die Zeit steht nicht still, wie die Herausforderungen wachsen, so muss unser eigener Anspruch dazulernen. Juncker sollte jetzt Nägel mit Köpfen machen und dann auch den Druck auf Frankreich und Deutschland erhöhen, dass diese beiden Länder bei ihren für die Zeit nach der Bundestagswahl erwarteten Vorschlägen zur Neubelebung der EU-Politik eine innovative Industriepolitik nicht vergessen. Ich möchte ihm hier gerne einen politischen Dreiklang vorschlagen auf den die künftige europäische Industriepolitik gestimmt sein soll: Digital; Ökologisch; Sozial.

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Sonst noch
  • Wer Junkers Rede und die Debatte am Mittwoch live verfolgen möchte, klickt einfach hier.
  • In der letzten Bütis Woche erwähnte ich bereits meinen Entwurf für eine Stellungnahme zur Digital Trade Strategy. Der Entwurf ist nun online und hier zu finden.
  • In dieser Woche findet die erste Straßburgwoche nach der Sommerpause statt, viele Themen stehen auf der Agenda: Waffenexporte, Fipronil-Skandal, Migration, Dieselgate, Militarisierung der Entwicklungspolitik und mehr.
  • Zudem bin ich wieder im Wahlkampf unterwegs. Lörrach und Mainz stehen auf dem Plan